Donnerstag, 17. November 2016

Wenn Hessen sich in Essen messen

Wenn vier Poeten zusammen in einer WG wohnen, kann es schon mal drunter und drüber gehen. Denn sie sind nicht alle so entspannt und ausgelastet, wie es die Pressefotos stets vermuten lassen. In ihrer Freizeit gehen sie nämlich ganz anderen Berufen nach als in ihrer Hauptbeschäftigung auf der Bühne – wenn sie nämlich gerade einmal kein neues nobelpreisfürliteraturverdächtiges Werk schreiben oder irgendwo in der Bundesrepublik „ins Mic spitten“, dann sind unsere Wortakrobaten ein Vulkanforscher, ein Astronaut, ein Wikipediaeinträgefälscher und ein Waldläufer. Wer wer ist, bleibt aus Datenschutzgründen geheim. 
 
Und wenn eben diese vier Männer, den Alltagstrott hinter sich gelassen, anfangen ihre Taschen und danach das Auto zu bepacken, weil sie wieder einmal einen Notruf aus einem anderen Bundesland erhalten haben, mit der Bitte, doch bitte die Abendshow zu retten, dann bleiben keine Trockenfrüchte, keine Thermoskannen und keine Queen-CDs vor ihnen sicher. Denn die Fahrt ist lang und der unstillbare Durst danach, eine (Brems)Spur am Einsatzort zu hinterlassen, ist groß.
Dieses Mal trifft es die Weststadt Story in Essen – eine riesige und legendäre Slam-Veranstaltung, die in- und außerhalb von Nordrhein-Westfalen großes Ansehen genießt.
Kurz vor der Abreise versammelt man sich traditionsgerecht im Flur und bespricht wichtige Eckdaten der Reise.

Er ist nicht zu finden, der Autoschlüssel in unserer Schüssel für Schlüssel!“ Thorstens Fäuste stemmen sich gegen seine Hüfte.

Verzeihe mir, Thorsten!“ entschuldigt sich Andreas. „Ich habe ihn mir gestern zum Üben ausgeliehen, als endlich das Buch ankam, welches ich bestellt hatte: 99 Wege mit einem Schlüssel schnell zu töten. Ich hole ihn mal eben aus der Übungspuppe heraus.“

Tu dies. Denn leider können wir uns das Fahren nicht sparen. Und wo ist überhaupt Artur? Macht er wieder eine Haarkur?“

Bin am Start“, Artur betritt den Flur und stopft sich noch ein paar Texte in die Hosentasche, die er in den nächsten drei Stunden immer wieder herausholen wird, um sich zu vergewissern, dass er sie auch wirklich dabei hat.
Jo, Domi, Bro, darf ich meinen Eistee in deine Tasche stecken? Ich nehm' keine mit, Digga. Dominik?“

Thorsten und Artur sehen verwundert zu Dominik herüber, der nicht antwortet. Einige Sekunden lang, bevor Thorsten erstarrt und Artur sich dreimal bekreuzigt. Den beiden wird nämlich klar, dass es gar nicht Dominik ist, sondern die Übungspuppe und dass Andreas die beiden schon wieder verwechelt haben muss.
Im selben Augenblick hört man verzweifeltes Bärengebrüll von Andreas aus dem Trainigsraum. Er kommt in den Flur, den (Gott sei Dank) noch atmenden Dominik auf den Armen tragend und stellt ihn ab.

Andy, ist es eigentlich dein Ernst? Wie oft denn noch?“, Dominik ist wirklich sauer, aber kann sein Lächeln nicht ganz unterdrücken, weil... wer kann Andreas schon so richtig böse sein?

Dominik, es tut mir so leid, dass es wieder zu dieser Verwechslung kam! Für das nächste Mal merke ich mir – wenn es stöhnt, dann ist es nicht meine Übungspuppe“, entschuldigt sich Andreas, „Ich bin heilfroh, dass du meine gestrige Trainingseinheit und die Nacht überlebt hast! Aber das Buch ist wohl für'n Arsch.“

Männer, wir müssten wirklich langsam los!“, Thorsten schaut die anderen über den Rand seiner Brille an und das ist kein gutes Zeichen.

Die Choreographie beim Einsteigen und Sitzen läuft nach so vielen Fahrten absolut reibungslos ab: Thorsten fährt, Dominik schmückt den Beifahrersitz, Andreas sitzt hinter Thorsten, Artur sitzt hinter Dominik und zwischen Andreas und Artur in der Mitte sitzt noch Andreas' rechter Arm und pulsiert.

Die drei Stunden, viele kleine und große Städte, einige Wälder und unzählige Eindrücke ziehen staulos an unseren Poeten vorbei. In dieser Zeit haben sie meist alle relevanten Themen dieses Lebens besprochen und alle Weltprobleme in der Theorie gelöst. Es wurde sogar der eine oder andere Spaß ausgetauscht.

Nachdem die Boyband in Essen angekommen ist, ahmt sie coole US-Kids nach und hängt ein bisschen in der Mall herum. Es wird gespeist und langsam versinken unsere Helden in ihren eigenen Gedanken, die bevorstehende Show im Fokus.

Zeitsprung. Die Weststadthalle füllt sich wider Erwarten (parallel fand die NRW-Slam-Meisterschaft statt) und die mindestens 500-10.000 Besucher nehmen ihre Plätze ein, die Luft knistert. Die Slampoeten sitzen auf bequemen Sofas und trinken VIP-Wasser, während das Moderationsduo Gabriel und Thomas mit dem berühmten Weststadt-Story-Pferderennen die Besucher in Extase versetzt. 

 
Artur darf den Abend eröffnen und trägt Mama vor. Dominik kommt als zweiter Poet auf die Bühne und reißt die Halle mit Dinge, die ich nicht verstehe nach allen Regeln der Gebäudesprengungskunst ab. Andreas liest Kein Text und scheidet zusammen mit Artur aus, um sich mit ihm betrinken zu dürfen und neue Bekanntschaften zu knüpfen. Thorsten performt Konzentrier dich! und kommt zusammen mit Dominik ins Finale.

Im weiteren Verlauf des Abends bekommt das Publikum Hessens Klassiker um die Ohren gehauen mit Thorstens Fortissimo und Dominks 90 Minuten oder wie lange Nagellack zum trocknen braucht und Anapophasistos, welche ihm einen würdigen zweiten Platz des Abends und eine Lyriksammlung von Mesut Özil bescheren.


Nach diesem erfolgreichen Abend in Essen haben unsere Helden mal wieder gezeigt, aus welchem Holz ein Hesse geschnitzt ist. Einige Stunden später sitzen die Vier wieder im Auto auf dem Heimweg zu ihrer Poeten-WG und schnick-schnack-schnucken, wer morgen Frühstück macht.